Die Eroberung des autoritären Charakters im Zeitalter der Simulation

Lars

Vor kurzem zappte ich in einen Film über konventionelle Gefechte amerikanischer und russischer U-Boote. Darin begegnete mir erstmals der Begriff „Täuschkörper“. Täuschkörper sind von einem angegriffenen U-Boot ausgestossene Ablenkungsattrappen, die den feindlichen Torpedo in die Irre führen, weil er sie für das eigentliche Ziel hält. Er kollidiert dann mit ihnen und explodiert. Das angegriffene U-Boot bleibt unversehrt.

„Täuschkörper“, das fand ich aus drei Gründen interessant. Erstens das Konzept, mit einer Attrappe die Aufmerksamkeit und Energie eines Aggressors von sich abzulenken. Zweitens die Vorstellung, dass mittlerweile nicht nur Kriegsparteien, sondern die meisten Menschen einen solchen Täuschkörper als virtuelles Ich auf sozialen Plattformen im Netz besitzen. Und drittens die Frage, was mit einer Gesellschaft passiert, die sich darauf geeinigt hat, von Täuschkörper zu Täuschkörper zu kommunizieren.

Wie kommunizieren Täuschkörper?

Wird etwa ein virtueller Täuschkörper von einem anderen beschädigt, dann behandeln wir dies als nahezu realen Schaden, als hätte die Person, zu der dieser Täuschkörper gehört, durch einen Shitstorm ein blaues Auge oder Schlimmeres erlitten. Ich fühle mich dadurch an das altmodische Konzept der Ehre erinnert. Die Ehre ist ein vormodernes Konstrukt, das es mit allen Mitteln zu verteidigen galt. Von der Ohrfeige mit dem schlapp gehaltenen Handschuh bis zum Duell, vom Degen bis zur Monsterkanone Dicke Berta war zur Disziplinierung des Ehrverletzers jedes Mittel recht und ein respektierter Vorwand, sich aggressiv durchzusetzen.

Ein Blick auf die Gegenwart zeigt, wir sind in diesem Punkt heute noch nicht viel weiter. Auch zur Verteidigung unseres virtuellen digitalen Ichs greifen wir zu immer drastischeren Mitteln. In extremis treffen Internet-Mobs zu Massenschlägereien wie der auf dem Berliner Alexanderplatz aufeinander. In der Regel aber wird der Täuschkörper im Netz mit oft juristischer Vehemenz geschützt, aufgerüstet und gerächt, als sei er unser physischer Körper. Gleichzeitig ringen mächtige Spieler um die Hoheit über ihn. Meist mit den Mitteln der Information oder Desinformation, häufig mit schlichter Verführung, Demagogik oder Hetze.

In der digitalen Welt findet also parallel zu unserem scheinbar friedlichen Alltag ein Krieg zwischen und um die Täuschkörper statt, der den Betroffenen unterm Dauerbeschuss latent verunsichert zurücklässt. Denn zerschossen wird hier nicht eine Festungsmauer, sondern die Grenze zwischen Wissen und Aberglauben zwischen Verschwörungstheorie und Realität. Wer nicht ganz verwirrt ist, muss sich am Ende fragen:

Darf ich noch glauben, was ich weiß?

Auf diesem alltäglichen digitalen Aggressionslevel würde im tatsächlichen Kriegsfall der Cyberwar aufsetzen. Gelenkte Information und Desinformation, die taktischen und strategischen Zielen dienen soll, trifft so auf Rezipienten, die desorientiert oder mit teils irrationalen Überzeugungen aufgehört haben, an die Gültigkeit von Informationen zu glauben. Besonders von Informationen, die nicht in ihr Weltbild passen. Was bedeutet das für eine Cyber-Kriegsführung, die solche Rezipienten erreichen will?

Natürlich gibt es qualitative Codes, mit denen sich Internet-Tribes gezielt ansprechen lassen, oder man nutzt quantitative Übermacht und bombardiert das System mit seinen Kernbotschaften. Zyniker wie Putin, Orban, Erdogan oder Xi Jinping agieren als Spalter und treiben offen oder im Verborgenen die schon durch herkömmliche Medien entfremdeten Blöcke aufeinander, um ungestört ihren Bereicherungszielen nachgehen zu können.

Einen Mann töten, eine Frau entführen.

Spaltung und Entfremdung sind jedoch fragwürdige Mittel für einen der Glaubwürdigkeit und Menschenfreundlichkeit verpflichteten Akteur im Cyberspace, als den ich die westlichen Demokratien auch im Kriegsfall verstehe. Die Situation, auf die dieser Akteur im Cyberspace trifft, gleicht der vom Anthropologen Jared Diamond beschriebenen:

Im Bergland von Neuguinea gab es in nahezu jedem Tal einen anderen Stamm. Hunderte Täler, hunderte von Stämmen – fast alle verfeindet. Wenn der Angehörige eines Stammes nahe dem Gebiet eines anderen Stammes entdeckt wurde, so die archaische Logik, durfte er getötet werden. Denn er konnte nur zwei Dinge im Sinn haben: Stammesmitglieder des ansässigen Stamms zu töten oder Frauen zu entführen.

Zu dieser Stammes-Logik scheinen wir im Cyberspace immer mehr zurückzukehren, wobei die Stammesgrenzen durch die Empfindlichkeiten des individuellen oder kollektiven Narzissmus ersetzt werden. Sie sind also in gewissem Sinne noch willkürlicher, als die der neuguineischen Stämme, denen es um Leben, Tod und Fortpflanzungschancen, statt nur um Meinungshoheit oder Eitelkeiten ging.

Diese narzisstischen Empfindlichkeiten – egal ob individuell oder kollektiv – entfalten sich zunehmend in einer digital simulierten Parallelwelt, die trotz aller grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten noch stark von zwei gegenläufigen Strömungen geprägt ist. Im virtuellen Raum des Cyberwar stehen sich zwei Mentalitäten gegenüber.

Bevormunden oder Behüten.

Nennen wir sie einfach die zwei Systeme der Infantilisierung: Das eher paternalistische, das Bevormundung und strenge Sorge gegen Gehorsam liefert (China/Russland etc.) und unser eher maternalistisches, das das infantile Ich umsorgt, behütet und Teilhabe anbietet, aktive Teilnahme aber oft nicht mal mehr einzufordern wagt.

In kommenden Cyber-Konflikten werden diese zwei Methoden der Infantilisierung des Staatsbürgers aufeinandertreffen. In einer digitalen Kriegsführung demokratischer Staaten, der es um mentale Eroberung geht und nicht um Zerstörung, wird es entscheidend sein, das paternalistisch geprägte Ich des Bürgers autoritärer Staaten zu verstehen und richtig anzusprechen. Reine Konsum- und Freiheitsversprechen wie im kalten Krieg bewegen hier nicht mehr viel. Wir müssen differenzierter vorgehen. Aber wie?

Wie überzeuge ich ein Gegenüber, das mir nicht glaubt? Nicht propagandistische Strategien.

Wie bringe ich in einer Welt der Simulationen das Reale zur Geltung? Ich schlage nicht-propagandistisches Denken vor. Statt Intelligenz zu beleidigen und Gefühle aufzuputschen wie Propaganda alten Schlages es oft tut, sollen Intelligenz und Emotionen der Rezipienten anerkannt, gestärkt und fair herausgefordert werden. Der an autoritäre Willkür gewöhnte, ggfs. dissidentische, Rezipient muß durch Haltung, Ton und Inhalte erfahren, dass er es beim demokratischen Absender mit einem selbstbewussten aber fairen Gegenüber zu tun hat.

Die Sehnsucht nach vertrauenswürdigen Narrativen.

Hierfür gibt es eine Reihe von Ansatzpunkten, von denen ich beispielhaft nur einige nennen will: Möglicherweise ist der Rezipient im Tunnel von Angst oder emotionaler Isolation gefangen. Dies zu verstehen ist der erste Schritt, ihn aus der Verengung hinaus zu führen. Sein Stresslevel dürfte

hoch sein, zur Entlastung sucht er nach vertrauten Anhaltspunkten, Inhalten, integren Personen oder sogar Idolen. Abgestossen von unglaubwürdigen Führergestalten, sucht der Rezipient nach neuen, Halt versprechenden Narrativen und Konzepten, denen er folgen würde. Solche Rezipienten brauchen oft nicht nur selbst Bestärkung, sondern auch Unterstützung, anderen zu helfen. Motivierend wirkt auch das Gefühl für andere zum Held oder zur Heldin werden zu können.

Wir sollten also Rezipienten zu gelenkten Verbündeten machen, indem wir eigene Überlegungen teilen und sie mit Entschiedenheit auf Augenhöhe ansprechen. Mit diesen und anderen Massnahmen verändern wir sukzessive die Perspektive der Rezipienten auf uns, bis hinreichend Glaubwürdigkeit entsteht, um die eigene Agenda sichtbar zu machen und durchzusetzen. Anders gesagt: Die Rezipienten sind nach diesem oben angerissenen Prozess eher bereit, zu glauben, was sie wissen.

Emotionale Ankerpunkte im autoritären Ich.

Nicht-propagandistische Strategien in einem von Misstrauen und Angst geprägten digitalen Umfeld stabilisieren also Rezipienten im Geist des selbstbewussten Kommunikators, statt sie zu destabilisieren. Auf diesem Weg schaffen solche Strategien neue emotionale Ankerpunkte beim autoritär geprägten Gegenüber, auf denen im nächsten Schritt die mentale Eroberung durch humane und demokratiefreundliche Inhalte aufsetzen kann.

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